Auf ihrem sechsten Longplayer sprengen die Trancecore-Pioniere Enter Shikari, wie man es von ihnen gewohnt ist, Genre-Grenzen. Dabei kombinieren sie Elemente ihrer vorherigen Alben mit neuen Stilen und schaffen dadurch eines ihrer bisher interessantesten Alben. Ob es sich für alteingesessene und neue Zuhörer der Band lohnt, erfahrt ihr in dieser Review.
Das Album wurde von Sänger Rou Reynolds selbst produziert, was der Band entsprechend große künstlerische Freiheit ermöglichte. Diese zeigt sich an den Genres, die dieses Album abdeckt. Darauf ist von elektronischen Genres, wie Jungle Beat, Drum and Bass und Grime alles bis Rock und sogar ein komplett orchestrales Lied vertreten.
Eine Reise durch diverse musikalische Landschaften
Die Tracklist basiert auf dem Aufbau einer Oper, was man an Titeln wie “Waltzing off the Face of the Earth (I. Crescendo) und “Reprise 3” sehen kann und deutet den Einfluss klassischer Musik auf dieses Album an. Auf diesem Album kombiniert das Quartett aus England elektronische Musik mit allen möglichen anderen Genres, insbesondere jedoch Klassik.
In der ersten Hälfte des Albums sind bereits Klassik-Elemente in Liedern wie “Waltzing off the Face of the Earth I” und “Reprise 3” enthalten, welche in der zweiten Hälfte des Longplayers in den Vordergrund treten und mit verschiedensten anderen Genres kombiniert werden. Der rote Faden zieht sich in Form der stark politischen Texte trotz des ständigen Wechsels zwischen Genres durch das gesamte Album und in einigen Liedern wird eine Geschichte erzählt. Die Struktur bleibt dabei schlüssig, allerdings ist vorweg zu sagen, dass dies kein Album ist, was man einfach mal zwischendurch hören kann und sollte. Man sollte sich die nötige Zeit nehmen, um sich auf die vielfältigen Klanglandschaften einzulassen.
Die Reise beginnt mit dem Opening Track “The Great Unknown”. Der Synthesiser erinnert an die frühen Tage der Band, die ursprünglich Post-Hardcore mit Trance und anderen elektronischen Genres kombinierte. Die Band kombiniert darin atmosphärische Synthesiser im Stil ihres Debutalbums “Take to the Skies” mit upbeat Drums. Dabei nutzt der Sänger, Rou, mehr seiner Range als früher. Im Song wechselt er fließend zwischen typischen, älteren Fans bekannten, Tonlagen und höheren Tönen, die er auf den bisherigen Alben noch nicht in dieser Form nutzte. Diese Übergänge verlaufen dynamischer als bei älteren Songs und wirken stimmiger als noch auf dem Vorgänger “The Spark”.
Auf diesen energetischen upbeat-Song folgt der meiner Meinung nach schwächste des Albums: “Crossing the Rubicon”, ein reiner Pop-Song im Stile von The 1975, “Enter the 1975”, sozusagen. Der Song geht in die gleiche Richtung, wie das Vorgängeralbum “The Spark”, allerdings noch stärker in Richtung Pop. Dabei ist die Songstruktur im Vergleich allerdings nur wenig dynamisch und auch der Gesang ist recht simpel, um nicht zu sagen monoton, gehalten.
Darauf folgt “{ The Dreamer’s Hotel }”, welches für alteingesessene Fans der Band das Highlight dieses Albums sein dürfte. Lyrisch und musikalisch ist dies ein typischer Shikari-Song, der so auch auf dem zweiten Album der Band hätte vorkommen können. Der Song varriiert zwischen Beats, wie sie im Hardcore üblich sind, einem allgemein hohen Tempo und Drum and Bass-Abschnitten, wie sie die Band schon seit jeher nutzte. Gegen Ende gibt es außerdem einen Breakdown, der diesen energetischen Song abrundet und ihn besonders live zu einem neuen Klassiker der Band machen könnte.
Das Tempo und der musikalische Stil wechselt drastisch mit dem nächsten Song: Waltzing off the Face of the Earth I. Hier trifft Klassik auf Elektronica, ja, die Band spielt ernsthaft einen Waltzer-Beat und paart diesen mit einem atmosphärischen Synthesiser. Im Verlauf des Songs rückt dieser weiter in den Vordergrund und schafft einen tanzbaren Song. Besonders die Pits zu diesem Song könnten interessant werden, da er dem Wort “Circle Pit” eine neue Bedeutung geben könnte. Lyrisch spricht die Band, wie der Titel andeutet, reale Probleme wie den Klimawandel und dessen Verleugnung an.
Ähnlich politisch ist das fünfte Lied, “modern living”. Es ähnelt Crossing the Rubicon, wirkt jedoch lebendiger. Darin kombiniert das englische Quartett Electronica, wie sie zu Zeiten von Common Dreads hätten vorkommen können, mit Strophen, die der Sänger wie ein englischer Rapper im Stil von Grime präsentiert. Erneut nutzt Rou mehr seiner Stimmreichweite, als auf älteren Alben und hält dadurch die Struktur frischer und dynamischer als bei Track 2, wodurch dieser ebenfalls poppige Song weniger statisch wirkt.
Im Anschluss daran folgt das Interlude “Apocaholics Anonymous” im Stil eines Remixes, wie sie die Band oftmals auf ihren Konzerten spielt. Der Track ist größtenteils instrumentell, jedoch sehr dynamisch. Der Base-Drop erinnert an das Nebenprojekt der Band mit Namen “Shikari Sound System” und erinnert daran, dass diese gerne DJ-Sets spielt. Insbesondere live könnte dieser Song viele Leute zum Tanzen bringen.
“The pressure’s on” ist ein weiterer Pop-Song, der sich allerdings dynamischer als “Crossing the Rubicon” anfühlt. Die Vocals und Instrumentals wirken dynamischer und gehen fließender in einander über. Die Bridge macht diesen Song zu einem weiteren guten Live-Stück. Darin treten die Instrumente in den Vordergrund und regen zum Tanzen an.
“Reprise 3” ist lediglich ein Interlude. Ältere Fans der Band dürften es aber von den ersten drei Alben wiedererkennen. Die Worte “And still we will be here, standing like statues”, welche für die Fans der Band bereits Kultstatus erreicht haben, werden hierbei vom gleichen Synthesiser begleitet, mit dem das erste Album endet und das zweite und dritte Album beginnen. Spätestens hier schlägt also die Nostalgie zu. Kennt man diese Alben nicht, ist dies trotzdem eine atmosphärische Überleitung in die zweite Hälfte des Albums.
Darauf folgt ein weiterer nostalgischer Song im Stil der älteren Songs der Band. There is no Alternative, kurz “T.I.N.A.” basiert auf derselben Aussage, die die “Iron Lady”, Margaret Thatcher oftmals von sich gab. Dementsprechend härter ist auch dieser Song. Es handelt sich um einen der härteren Tracks des Albums. Auf das Intro folgt ein Breakdown, dann zieht das Tempo in der ersten Strophe an und erinnert in der zweiten Strophe an Upbeat-Songs von The Prodigy, sowie “Insomnia” von Faithless.
Darauf folgt eines der interessantesten Lieder des Albums: “Elegy for Extinction”, auf Deutsch: Hymne zum oder fürs Aussterben. Hierbei handelt es sich um ein komplett klassisches Lied. Dieses komponierte der Sänger mithilfe von George Fenton. Aufgenommen wurde es mit einem Prager Orchester, wie der Sänger in einem Interview erzählt. Dieses Lied ist sehr atmosphärisch und trotz des radikalen Stilwechsels ist es ein typisches Enter Shikari-Lied, was auch daran liegen könnte, dass der Sänger dem Orchester laut eigener Aussage quasi ein Riff zum Spielen überließ. Der Höhepunkt des Songs erinnert stark an den typischen Optimismus und an die Chorusse der Band. Gegen Ende wechselt die Atmosphäre jedoch stark und wird recht düster. Beim ersten Hören war dies mein persönlicher Favorit, obwohl ich an sich kein Klassik-Fan bin.
Die klassischen Elemente treten auch in den folgenden Liedern in den Vordergrund. Mit einem “James Bond-Intro” beginnt der nächste Song, “The Marionettes I.” Ab ungefähr 50 Sekunden kickt ein Jungle Beat rein, welcher auch parallel zur zweiten Strophe läuft. Dazu noch eine Brise House und fertig ist der tanzbare Song, der sicherlich ein Live-Hit werden könnte. Dabei führt dieser Song lediglich auf seine Fortsetzung hin, “Marionettes II.” Darin wechselt Rou zwischen Spoken word und Gesang und der Song kulminiert in einem sehr starken, atmosphärischen Chorus, der Potential hat, eine neuen Live-Hymne der Band zu werden. Lyrisch werden Ignoranz im Angesicht potentieller Katastrophen, wie des Klimawandels, und der Umgang damit angesprochen und die zu Beginn des Albums eingeführten Motive somit weitergeführt.
Der vorletzte Song ist eine LGBTQIA+ -Hymne mit einem sehr schönen, verständnisvollen Text, in dem der Sänger wieder einmal zeigt, dass er sich mit den Themen, über die er singt auch auskennt. Folgendes ist eine der stärksten Zeilen: ‘Online they discuss whether I exist and in court they decide who I can kiss’. Auf das stimmungsvolle Autotune-Intro folgen Gitarre und Drums. Das Tempo zieht zunehmend an und schafft einen explosiven Upbeat-Song für gute Laune mit einer tollen Botschaft – definitiv einer meiner Lieblingssongs auf diesem Album. “Satellites” erinnert stark an die älteren Songs der Band, allerdings ein wenig softer, was für das ganze Album gilt.
Den Abschluss macht “The King”, ein weiterer schneller, energetischer Song. Allerdings wirkt dieser etwas konstruiert und statisch. Der Chorus ist typisch Enter Shikari und wechselt sich mit Strophen ab, die gerappt werden. Zum Schluss gibt es noch einen Breakdown, allerdings komplett anders als zum Beispiel im älteren Lied “Sssnkakepit”. Dieser Song könnte gerade live interessant werden, da er auf einer Show vielleicht natürlicher wirken könnte und das Potential hat, live Stimmung zu machen.
Abschließend folgt das Outro, “Waltzing off the Face of the Earth II”, ein weiterer klassischer Song, in dem der Titel des Albums von front und backing vocals rezitiert wird: “Nothing is true and we’re waltzing off the face of the earth”. Bereits zu Beginn des Songs wird klar, dass es der letzte des Albums ist. Er ist sehr atmosphärisch und kombiniert Klassik, elektronische Musik und Ambient-Effekte, wie Live-Gesang der Band und Vogelzwitschern und erzeugt eine heimliche Atmosphäre, ähnlich dem Ende einer Reise. Der Text greift erneut das Leitmotif des Albums auf, welches in der ersten Hälfte eingeführt wurde, nämlich die Möglichkeit von Veränderung zum Positiven wie auch Negativen und der Kreis schließt sich. Die Musik und die Leitmotive des Albums kontrastieren gerade gegen Ende stark und vermitteln eine positive, wie auch dringende Nachritcht: Trotz der aktuellen Krisen gibt es immer noch Hoffnung, etwas zum Positiven zu verändern.

Fazit: Wer sollte sich das Album anhören?
Enter Shikari sind gewohnt konsequent bei der Umsetzung ihrer künstlerischen Vision. Das Album ist recht experimentell und die Band bewegt sich weiter von ihren Ursprüngen in der Hardcore- und Post-Hardcore-Szene weg. Wer diese Entwicklung bereits auf “The Spark” nicht mochte, wird dieses Album erst recht nicht mögen.
Ich kann dieses Album dennoch jedem ans Herz legen, unabhängig davon, ob man die Band mag oder nicht. Es ist ein sehr vielseitiges Album und jeder Track bietet etwas Neues. Wer also viel unterschiedliche Musik hört und insbesondere, wer gerne experimentelle Musik mag, sollte sich dieses Album anhören. Allerdings muss man dieses Album mehrmals hören, da es vor allem beim ersten Hören recht anstrengend sein kann und man sich auf das Gesamtpaket einlassen muss. Sobald man diesen ersten Schritt gemacht hat, wird das Album aber mit jedem Hören besser.
Insgesamt gebe ich dem Album 8,5 von zehn Punkten. Bis auf “Crossing the Rubicon” ist das Album durchweg interessant, wobei natürlich einige Lieder mehr überzeugen als andere. Tracks, die mich besonders begeisterten, sind Elegy for Extinction, Marionettes I und Satellites. Meine erste Reaktion war etwas verhalten, allerdings ist das Album ein Grower, den man erst schätzen kann, wenn man es mehrmals gehört hat und wie erwähnt, wird es mit zunehmendem Hören besser. Es ist potentiell eines der besten Alben der Band und in der Essenz immer noch repräsentativ für deren Stil, auch wenn dieser sich von den ursprünglichen Wurzeln wegbewegt hat.
Das war meine erste Album-Review. Sie ist lange überfällig, aber ich bekam das Album später als erwartet und hatte bisher nicht die Zeit, dies umzusetzen. Zukünftig könnt ihr mehr solchen Content erwarten, was jedoch nichts am Kernkonzept des Blogs ändern wird. Ich werde nach wie vor meine Formate beibehalten und ab und an Songs oder Alben, die mich interessieren, reviewen. Wie immer vielen Dank für’s Lesen. Schreibt mir gerne, wie ihr das Album fandet, falls ihr es bereits gehört habt und schreibt mir gerne eure Meinung. Vor dem Hintergrund, dass Enter Shikari ihren Stil stark verändert haben, würde mich interessieren, wie ihr dazu steht, wenn Bands ihren musikalischen Horizont erweitern. Schreibt gerne in die Kommentare oder auf Twitter.
Bis zum nächsten Post
-sovlpvnk
Mein letzter Post:
https://sovlpvnk.com/2020/05/17/ace-rep-0-ein-asexuelles-abc-was-ist-asexualitat/